Es war einmal ein großer Wald mit alten Eichen und Buchen darin. Die Leute nannten ihn Spessartwald. Tief im Spessart in einem kleinen Tal zwischen hohen Tannen steht ein kleines Häuschen. Vor dem Häuschen steht eine Bank und an den Fenstern hängen Blumenkästen mit leuchtend roten Geranien. Hinter dem Häuschen plätschert lustig ein kleiner Bach. Hier wohnt das Spessarträuberle. Im Sommer baut es in seinem Garten Gemüse an. Ein paar Erdbeeren werden wohl auch dabei gewesen sein. Im Winter, wenn auf den Beeten nichts wächst als Schafmäulchen, sitzt das Spessarträuberle in seinem Schuppen vor dem Ofen und schnitzt Figuren aus Holz. An besonders kalten Tagen rückt es seinen bequemen Ohrensessel in der Stube ein wenig näher an den Herd und strickt warme Socken. Manchmal verlässt das Spessarträuberle sein kleines Tal und macht sich auf den Weg ins Dorf, um im Laden bei Frau Egert ein Stück Seife zu kaufen oder sich beim Müller einen Sack Mehl abzuholen.
An einem verschneiten Wintertag wollte es in den Krämerladen fahren. Es hatte in einem seiner Wollsocken ein Loch entdeckt, aber im ganzen Häuschen ließ sich kein Knäuel Stopfgarn mehr finden. Draußen vor dem Fenster fielen dicke Schneeflocken vom Himmel. „Mit einem dicken Schal, meinen Handschuhen und meinem Hut wird es schon gehen“, dachte das Spessarträuberle. Es zog die Winterstiefel an, schulterte seine Tasche und trat vor die Haustüre. Den Hut tief ins Gesicht gezogen holte es seinen Schlitten aus dem Schuppen und stapfte durch den Schnee in Richtung des Dorfes. Wann immer der Weg bergab führte, setzte es sich auf seinen Schlitten und brauste in wilder Fahrt durch den Winterwald. Es hatte riesigen Spaß und die Feder an seinem Hut flatterte im Wind. Als der Weg wieder ein Stückchen anstieg, musste das Spessarträuberle zu Fuß gehen und hörte auf einmal ein seltsames Geräusch. Hinter der nächsten Biegung schluchzte jemand. Zwischen jeden der herzzerreißenden Schluchzer mischte sich ein „Hicks“. Nach ein paar Schritten sah unser Spessarträuberle von wem die Geräusche stammten.
Am Wegesrand, im Graben, hockte ein kleines Eselchen. Dicke Tränen kullerten über sein Gesicht. „Ach du liebes Bisschen“, sagte das Spessarträuberle besorgt. „Warum sitzt du denn hier auf der kalten Erde und weinst?“ „Ich bin mit dem linken, hicks, Vorderhuf, hicks, umgeknickt“, jammerte das Eselchen. „Und jetzt habe ich auch noch Schluckauf.“ „Ich werde dir helfen“, versprach das Spessarträuberle und fragte: „Wie heißt du denn eigentlich?“ „Ich bin das Eselchen, hicks.“ „Gut mein liebes Eselchen, du setzt dich einfach auf meinen Schlitten und ich ziehe dich“, schlug das Spessarträuberle vor. „Im Dorf gehen wir zum Doktor Obert, damit er sich deinen Huf anschauen kann.“
Der Weg bis ins Dorf war nicht mehr weit. Trotzdem musste sich das Spessarträuberle ganz schön anstrengen. Ein Eselchen ist nämlich gar nicht so leicht. Im Dorf angekommen parkte es den Schlitten samt Eselchen vor dem Haus des Doktors und klopfte an die Tür. Der Doktor öffnete und blickte das Spessarträuberle ganz erstaunt an. „Ja Räuberle, was kann ich für dich tun? Bist du krank?“ „Nein“, antwortete es, „ich habe im Wald das Eselchen getroffen. Es hat sich den linken Vorderhuf verstaucht und einen ganz bösen Schluckauf.“ „Au weh, dann kommt erst einmal herein in die warme Stube“, sagte der Doktor Obert. Zusammen halfen sie dem Eselchen über die Schwelle und führten es zum Kamin. Es legte es sich vor dem prasselnden Feuer nieder. „Erst einmal braucht ihr eine Stärkung“, erklärte der Arzt. „Ein heißer Süßmost tut euch bestimmt gut.“ Er nahm drei Krüglein vom Regal und füllte sie mit dampfendem Saft. Nach ein paar Schlucken wurden die Wangen des Spessarträuberle wieder ganz rosig und auch das Eselchen wirkte ein wenig zufriedener. „Na, dann lass uns mal schauen, was mit deinem Huf ist, Eselchen“, sagte der Doktor Obert und streckte die Hand nach dem lädierten Vorderbein aus. „Au!“, klagte das Eselchen. „Na, na, ist ja schon gut“, beruhigte der Doktor. Er untersuchte den Huf ganz vorsichtig und stellte fest: „Es wird wohl nichts gebrochen sein. Da hattest du noch einmal Glück, Eselchen.“ Erleichterte atmete das Eselchen auf und tat einen tiefen Seufzer. „Siehst du, es ist ja doch gar nicht so schlimm“, stellte das Spessarträuberle fest. „Wir machen dir einen Verband mit Salbe. Du wirst sehen, dann ist dein Bein bald wieder gut“, erklärte Doktor Obert und nahm einen Tiegel und Verbandszeug aus dem Schrank. Gerade als er fertig war, läutete es draußen vom Kirchturm her vier Uhr am Nachmittag.
„Ach herrje, es wird bald dunkel werden“, meinte das Spessarträuberle. „Ich sollte mich auf den Heimweg machen.“ „Aber wo soll ich denn jetzt hingehen?“, wollte das Eselchen wissen. Erneut traten Tränen in seine Augen. „Ja, hast du denn kein Zuhause?“, wunderte sich das Räuberle. „Nein“, flüsterte das Eselchen kleinlaut. „Ich wurde in einem Wanderzirkus geboren. Wir haben eine Vorstellung in der Stadt gegeben. Da ist der Müller gekommen und wollte mich dem Zirkusdirektor abkaufen. Ich habe große Angst bekommen und bin in den Wald gelaufen so schnell ich konnte. Dann bin ich gestolpert und hingefallen. Ich musste in der Kälte sitzen und habe gedacht, mein Leben sei zu Ende. Dann bist du vorbeigekommen.“ „Ach so. Das ist natürlich eine ganz schlimme Sache“, sagte das Spessarträuberle. „Warum kommst du nicht einfach mit und wohnst bei mir im Wald?“ „Eine ganz großartige Idee“, rief der Doktor Obert. Auf dem Gesicht des Eselchens breitete sich ein Lächeln aus. Es nickte heftig. „Ihr solltet euch aber langsam wirklich beeilen“, erinnerte der Arzt. „Ja, wir müssen auch noch zum Krämer und Garn kaufen. Danach gehen wir noch zu Frau Egert und kaufen ein paar Mohrrüben für das Eselchen.“ Die beiden bedankten sich beim Doktor und verabschiedeten sich.
Draußen auf der Straße setzte sich das Eselchen auf den Schlitten und die beiden machten sich auf den Weg. Beim Krämer kauften sie nicht nur das Garn für die Socken, sondern auch eine große Tüte Himbeerbonbons. „Wer verletzt ist, der braucht eine Leckerei, damit er ganz schnell wieder gesund werden kann“, wusste das Spessarträuberle. Bepackt mit Garn, Himbeerbonbons und Mohrrüben machten sich die beiden schließlich auf in Richtung des Waldes. Als sie die erste Anhöhe passiert hatten, setze sich das Spessarträuberle zum Eselchen auf den Schlitten und sie sausten den Berg hinunter. Daheim am Häuschen stellten sie den Schlitten zurück in den Schuppen und das Räuberle schleppte einen großen Ballen Stroh in die Stube. Neben seinem eignen Bett richtete es ein Lager für das Eselchen. „Dort sollst du es dir bequem machen, Eselchen“, sagt es. Das Eselchen legte sich auf sein neues Bett und knabberte glücklich an einer Mohrrübe. „Hier ist es schön, hier gefällt es mir!“, schmatze es. „Darf ich für immer bei dir bleiben?“ „Das wäre wunderbar“, lachte das Spessarträuberle.

